+ Die Energie der Eidgenossen

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+ Die Energie der Eidgenossen

Kerstin Krämer - Journalistin, Autorin und Fotografin | Saarbrücken
Veröffentlicht von kek in Rezension · 17 September 2012
Tags: RezensionFeuilletonKonzertJazzSZ

Rezension, erschienen im Feuilleton der SZ, 17. September 2012

Ein Blick auf die 22. Internationalen St. Wendeler Jazztage mit Schwerpunkt auf der Schweiz
Sehr gelungen sind die Internationalen St. Wendeler Jazztage ausgefallen, die bis gestern Abend liefen. Der Schwerpunkt beim 22. Jahrgang war die Musikszene der Schweiz. Von dort kam auch ein Liebling des Festivals: „Hildegard lernt fliegen“.


St. Wendel. Was wollten uns eigentlich die Wattestäbchen auf dem Plakat der diesjährigen Internationalen St. Wendeler Jazztage sagen? Dass die 22. Ausgabe des Festivals uns mal gründlich die Ohren durchpusten würde? Oder dass wir unsere Lauscher vorsorglich putzen sollten, um nur ja alle Feinheiten mitzubekommen? Und die Mikado-artige Stapelung der Q-Tips – sollte sie signalisieren, dass es ebenso fragil wie vielschichtig zugehen würde?

Diese Verheißungen haben am Wochenende europäische Spitzenensembles mit Schwerpunkt Schweiz eingelöst. Wie immer gingen die Konzerte in familiärer Atmosphäre und brillantem Sound über die Bühne des Saalbaus, wo der künstlerische Leiter Ernst Urmetzer sich bei seinen rund 30 ehrenamtlichen Helfern bedankte. Viele davon sind in der Bigband „Urknall“ aktiv, die gestern mit einer Gala ihr 30-jähriges Jubiläum feierte. Neu im Programm war „Jazz für Kinder“: In der Vermittlerrolle servierte zur sonntäglichen Matinée das Münchner Panama-Ensemble mit „Die Pecorinos“ ein „Krimi-Mäusical“.

Zum Auftakt spielte am Freitag das Trio des polnischen Pianisten Marcin Wasilewski, das bereits 2001 als blutjunge Begleitcombo des Trompeters Tomasz Stanko in St. Wendel gastiert hatte. Am lyrisch-introvertierten Zugriff hat sich wenig geändert: Die Polen mögen es minimalistisch und betten bei eigenen wie Fremdkompositionen (darunter Titel von Hanns Eisler und Krzysztof Komedas Filmmusik zu Roman Polanskis „Rosemary's Baby“) einprägsame Motive in rhythmisch vertrackte Strukturen, die zu zerfasern scheinen, bis wieder ein gemeinsamer Puls einsetzt. Gewöhnungsbedürftig war freilich der höhenlastig schnarrende Sound von Slawomir Kurkiewicz' Stutz-Kontrabass.

Mit Christoph Stiefels „Isorhythm Orchestra“ folgte eine auf höherem Energieniveau angesiedelte deutsche Erstaufführung. Der Schweizer Pianist, vor zwei Jahren mit seinem „Inner Language Trio“ bei WND Jazz zu hören, beschäftigt sich seit Jahren mit einer aus der Renaissance stammenden Kompositionstechnik, bei der sich rhythmische Muster verschieben und überlagern. Hier präsentierte er seine ursprünglich für Trio arrangierte Musik in einer siebenköpfigen Formation um Sängerin Sarah Buechi, die ihre Stimme mit makelloser Intonation oft wie ein Instrument einsetzte und so mit dem Bläsersatz verschmolz: Über Stakkato-Beats entfalteten sich ebenso schmissige wie komplexe, mitreißende orchestrale Unisono-Passagen und Kollektiv-Improvisationen.

Zum Liebling des Festivals avancierten tags darauf Stiefels Landsmänner von „Hildegard lernt fliegen“. Dem eidgenössischen Sextett um Ausnahme-Vokalist Andreas Schaerer gelang eine phänomenal witzige, vitale und überraschungsträchtige Synthese aus Weltmusik und Jazz – gespickt mit ironischen Brüchen und so ungewöhnlichen Instrumenten wie einer Schreibmaschine. Mal klang es, als ob britische Exaltiertheit im Balkan Karussell fährt, dann wieder gelangen ergreifend authentische hypnotische Momente. Mainstream-verstopfte Ohren wurden mit kernig-expressiven Sounds gewaschen, und Stimmakrobat Schaerer brillierte als Entertainer wie als klassisch versierter Sänger, der obendrein jede Weltmeisterschaft im Instrumente-Imitieren und oralperkussiven Beatboxen gewinnen würde – kein Wunder, dass schon Bobby McFerrin sich seiner Unterstützung versicherte.

Nach diesen helvetischen Überfliegern setzte der politisch bewegte, israelischstämmige Star-Saxofonist Gilad Atzmon zum Einstieg auf Powerplay. Doch war der Beitrag seines ansonsten jung besetzten „Oriental House Ensemble“ nicht so fernöstlich, wie der Name suggerierte: Der Auftritt des hochvirtuosen britischen Quartetts verknüpfte feinnervigen Bebop und Klassik (Ravels „Bolero“ etwa durfte als feuriger Calypso tänzeln) und hinterließ stilistisch einen etwas beliebigen Eindruck – weniger kompromissbereit freilich klangen Atzmons Emotionalität und sein auf Sopran- und Altsax wie Klarinette gleichermaßen dominanter Ton. kek



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